Kritik des Poststrukturalismus
Einige Bemerkungen zur poststrukturalistischen Theoriemode am Beispiel von Gilles Deleuze (PDF)
Als Poststrukturalismus wird eine Theorietradition bezeichnet, die sich selbst wohl gar nicht als solche verstehen möchte, für deren Ansätze jedoch auch eben diese Fragmentiertheit symptomatisch ist. Waren Ansätze dieser Strömung zunächst vor allem für Literaturwissenschaften und Linguistik bedeutsam, wurden diese seit den 70er Jahren zunehmend popularisiert und auch in linker Gesellschaftskritik breiter rezipiert. Zugerechnet werden etwa Jacques Derrida, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari, wie auch Judith Butler. Der Strukturalismus sieht hinter den Erscheinungen der Welt eine in sich logische Struktur, die über die Sprache dem Menschen zugänglich werden kann. Der Poststrukturalismus hingegen betont, dass die logische Struktur nur eine Hypothese sei, abhängig in der Wiedergabe von den individuellen Sichtweisen, und dekonstruiert damit die Zuschreibung von Sinn als individuellen Akt des jeweiligen Diskursteilnehmers. Die materielle Welt wird als rein durch die Sprache strukturiert gedeutet, also von Zeichen, Bedeutungen und Zuschreibungen konstituiert und reproduziert. Statt erkennender Subjekte fungieren besagte Diskursteilnehmer wie Knotenpunkte zwar in der Wieder- und Weitergabe dieser Zuschreibungen, materielle Strukturen außerhalb hiervon, wie sie noch dem Strukturalismus namensgebend waren, finden sich jedoch nicht mehr. Auch ontologische Qualitäten jeglicher Art müssen so zurückgewiesen werden: Wahrheit wie Sinn kann es nicht mehr geben. Im wesentlichen besteht der Poststrukturalismus damit auf die Auseinandersetzung mit der sprachlichen Bedingtheit gesellschaftlicher Zustände, und folgerichtig auf die Intervention in den Diskurs als Ort der Produktion von Hierarchien. Damit ist die Sprache als ausschließlicher Ort für Praxis und Wirklichkeit bestimmt.
Auf die Sprache beruft sich auch Marx, skizziert er doch den Zusammenhang von Sprache und gesellschaftlicher Realität. Der Kontext ist jedoch der einer Kritik der Realität aus materialistischer Sicht. Denn diese bestimmt sich erst in der Spannungsfeld von materieller Tätigkeit und Potenzialität derselben, das heißt: Von der Realität nicht zu trennen sind die in ihr gegebenen Möglichkeiten, an denen der Materialismus sein Interesse hat. Zwar tritt damit auch die Sprache als Ort für die Formulierung solcher Potentiale auf, eben in der Kennzeichnung einer Differenz von Gegebenem und Möglichem; die Ausweisung dieser Differenz bleibt jedoch selbst nur ein Moment der Praxis.
Die Wahrheit in den Begriffen ist damit eine negative darüber, was fehlt und doch möglich wäre. Diese Dialektik von Allgemeinem und Besonderem verkürzt der Poststrukturalismus auf die Binsenweisheit des Nominalismus: Das Fehlen einer ontologischen Wahrheit in der materiellen Welt wird so verabsolutiert, die Notwendigerweise abstrakte begriffliche Fassung des Realen zur wahllosen Zuschreibung. Während der Materialismus zwar auch die Wahrheit als eine ewige, der Welt eigene leugnet, um sie selbst zu konstruieren – als die der Menschheit, die selbstbestimmt sich die Möglichkeiten der materiellen Welt mit ihren Produktivkräften aneignet – weist der Poststrukturalismus dies als Anmaßung zurück und zieht sich auf die Dekonstruktion, d.h. die Arbeit gegen den Begriff zurück. Nicht umsonst kritisierte schon Marx an den Junghegelianern derlei „philosophischen Kampf mit den Schatten der Wirklichkeit“ als Prahlerei von „Gedankenhelden“ und „Schafe[n], die sich für Wölfe halten und dafür gehalten werden“.
So werden mit dem Anspruch auf Wahrheit und Materialismus auch die Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderung begraben. Schlussendlich verabschiedet sich der Poststrukturalismus, ähnlich der neoliberalen Theorie Hayeks, damit auch vom Versuch, Gesellschaft begrifflich zu fassen, um sie zu verändern.
Dies vermag vielleicht zu beleuchten, warum nun die Kritik der oben skizzierten Ansätze auch in ihren Grundlegungen kein Spartenproblem für die Erkenntnistheorie bleibt, stützt sich doch ein nicht unwesentlicher Teil auch jener Gesellschaftskritik auf die umrissenen Ansätze, die sich als linke gerade der Veränderung der Verhältnisse verschrieben haben – selbst wenn die Rezipienten sich nur auf Bruchstücke und einzelne Aspekte poststrukturalistischer Theorie beziehen. Angefangen bei der im Schlagwort der Identität gefasste Zumutung eines Aufgehens der Subjekte in den Verhältnissen des Kapitals, die hier keineswegs zurückgewiesen, sondern zum lieben Sorgenkind erhoben wird, hin zur Kritik am westlich-universalistischen Blick auf den so konstruierten Orient im Verbund mit einer Affirmation der islamistischen Gegenaufklärung. Denn, dass nun dies alles nicht nur eben die Bequemlichkeit einiger marginalisierter Akademiker beleuchtet, denen es nur gelegen kommen konnte, statt mit der Macht aus den Gewehrläufen nun mit den Dekonstruktionstools fleißig im Kampf für das Gute agieren zu können, wird an der – meist unausgewiesenen – Breite deutlich, die Fragmente poststrukturalistischen Denkens heute nicht nur in den sich als emanzipatorisch verstehenden Teilen der Linken einnehmen konnte. Von den Gender Studies bis zur Critical Whiteness herrscht Uneinigkeit nur darin, welcher Form zugerichteter Subjektivität im Spätkapitalismus nun am meisten Mitleid gebühre. Gleichzeitig sind die repressivsten Formen patriarchaler Gewalt gegen Frauen und Homosexuelle kaum der Rede wert, vom Antisemitismus will man sowieso nichts wissen.
Deswegen möchten wir in der Woche vom 09. bis zum 13. Juni in einigen Vorträgen zur Kritik am Poststrukturalismus hierbei zentrale Annahmen und Konsequenzen aufzeigen. Aufgeworfen werden soll dabei auch die Frage nach einem inhärenten Erkenntnismoment, etwa für eine feministische Gesellschaftskritik, wie auch die nach der gesellschaftlichen Bedingtheit poststrukturalistischer Theorie, damit nach ihrer historische Genese als Ausdruck spätkapitalistischer Ideologie. Die Vortragsreihe versteht sich dabei als Aufklärung und politische Intervention.