Vortrag mit Gerhard Stapelfeldt: Dialektische Kritik der liberalen Aufklärung und bürgerlichen Revolution
Gerhard Stapelfeldt: Dialektische Kritik der liberalen Aufklärung und bürgerlichen Revolution
Die liberale Aufklärung überwindet die theoretische und praktische Metaphysik: die Auffassung einer göttlichen Welteinheit und deren politisch-ökonomische Materialisierung im Absolutismus und Handelskapitalismus. Die bürgerlichen Revolutionen in England (Industrielle Revolution, nach 1765), Nordamerika (Unabhängigkeit: 1776) und Frankreich (politische Revolution: 1789) verwirklichen den liberalen Industriekapitalismus, die bürgerliche Freiheit von Nationen und Individuen, die liberale Republik.
Zeitgenossen wie Hegel, Saint-Simon und Comte sind sich (um 1810/1820) einig: Liberale Aufklärung und bürgerliche Revolution scheinen einen radikalen Bruch mit der bisherigen Geschichte der Gewalt vollzogen zu haben: mit den Formen des willkürlichen und des rationalen Absolutismus (Leviathan), mit der Geschichte der europäischen Welteroberung, mit der Ausbeutung der außereuropäischen Weltregionen. Liberale Aufklärung und bürgerliche Revolutionen hätten das alte Regime zerstört, die Herrschaft der Vernunft proklamiert, universale Sozialutopien – ewiger Friede, Freiheit und Gleichheit aller Menschen, Wohlstand der Nationen – mit dem Anspruch auf deren Verwirklichung formuliert. Aber diese Utopien seien in die Gewalt des politisch-ökonomischen Gesellschaftskrieges, in den Großen Terror der Französischen Revolution übergegangen. Das Resultat sei, so schien es um 1814/15 (Wiener Kongreß), ein unendlicher Kreis von Revolution und Restauration.
Die dialektische Kritik zuerst Hegels, später vor allem Marx’ und Engels’, klärt diese Vollendung der liberalen Herrschaft der Vernunft in gesellschaftlicher Gewalt auf: Die liberale Aufklärung und bürgerliche Revolution hätten die neuen Prinzipien der alten Gesellschaft nur entgegengesetzt, also dogmatisch vorausgesetzt. Der theoretische Dogmatismus der liberalen Aufklärung vollende sich im praktischen Dogmatismus der bürgerlichen Revolution: die Geschichte der Gewalt sei nicht überwunden, sondern werde in rationalisierter Form fortgesetzt. Diese Kritik verwirft nicht die liberalen Utopien, sondern bewahrt deren Ideen, um sie in einer proletarischen Revolution wahrhaft zu verwirklichen.
G. Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Soziologie-Professor an der Universität Hamburg