Gehard Stapelfeldt: Bildungs-Armut - Die Fetischisierung der Bildung und die Regression des Lesens
Die soziologische Armutsforschung unterscheidet die materielle von der immateriellen Armut. Zur materiellen Armut gehören die Armut in den Bereichen des Einkommens und Vermögens, daraus abgeleitet die defizitäre Versorgung mit Wohnung, Nahrungsmitteln, öffentlichen Dienstleistungen und medizinischen Leistungen. Zur immateriellen Armut gehören die Armut in den Bereichen der Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben, Kommunikation, seelische Verfassung, Bildung.
Die klassische Politische Ökonomie und Gesellschaftstheorie hat zahllose Werke hinterlassen über den „Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ (Marx). Anfangs wurde versucht, den Reichtum durch ein Wertmaß zu messen (von Petty bis Ricardo), bis Marx diesen Wert als ein bewusstloses gesellschaftliches Verhältnis aufklärte. Die Fachwissenschaft vom logos der societas setzt diese Verhältnisse unreflektiert ,stützt ihre Reichtums- und Armutsforschung deshalb auf eine willkürliche, konventionelle Definition und misst, was sie explizit nicht begreift.
Im Bereich der Bildungsforschung wird somit als Bildung das herrschende, konformistische Verständnis von Wissen vorausgesetzt, so daß dieses meßbar wird. Dieses Wissen schließt a priori eines aus: das Wissen von der Gesellschaft als Ganzer. Dieses Wissen setzt die Wissenden als konformistische Charaktere voraus, die unter den herrschenden Verhältnissen nützlich sind, deren Wissen verwertbar ist, Reichtum schafft.
Die Bildung als konformistisches Wissen konformistischer Charaktere ist die vollständige Verkümmerung der Idee von Bildung: der Bildung des Einzelnen zu einem Subjekt, das sich seiner selbst und seiner Verhältnisse bewusst ist. Bildungs-Armut ist somit darzustellen als Verfall dieser gesellschaftlichen Utopie von Bildung. Zu zeigen ist, daß die Reduktion von Bildung auf eine Reichtum schaffende Potenz eine Bildungs-Armut erzeugt. Der Irrationalismus, in dem diese Armut besteht, entspricht dem Irrationalismus einer neoliberalen Wettbewerbs-Gesellschaft, die den Sozialdarwinismus zum Ordnungs-Prinzip erhebt.
Prof.Dr. Gerhard Stapelfeldt lehrte von 1979 bis 2009 am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller in Hamburg.