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Autonome Tutorien im Sommersemester 2024

Liebe Kommiliton:innen,

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24_a2_plakat_at_kr_final.jpg, von szymanski


auch für dieses Semester haben sich einige eurer Mitstudent:innen wieder die Mühe gemacht, sich in verschiedene Fragestellungen und Themenkomplexe einzuarbeiten und diese nun wöchentlich als Autonomes Tutorium anzubieten.

Für euch also die sehnlichst vermisste Gelegenheit, endlich den Anschluss an heiß diskutierte Debatten zu finden, endlich ein tieferes Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu erarbeiten, endlich die von verschulten Modulplänen ausgesparten Ansätze zu ihrem Recht zu bringen und endlich Einsichten zu gewinnen, die ihren Zweck nicht in bestandenen Klausuren erschöpfen.
Autonome Tutorien widmen sich Themen, die im straffen Lehrplan der Form und dem Inhalt nach keinen Platz finden. Sie bieten die Möglichkeit, eigenen wissenschaftlichen Interessen ungezwungen nachzugehen und sie in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen. Das ist angesichts des stetigen Drucks im Studienalltag zwar leider häufig kaum möglich, der Erfahrung nach finden sich in den Tutorien aber dennoch viele Studierende ein, denen das Thema am Herzen liegt und die die Zeit und Muße mitbringen, sich der Sache aufmerksam zu widmen. Und gerade bei schwierigeren Themen werden Wissenshierarchien nicht gegeneinander ausgespielt, sondern alle Teilnehmer:innen mit einbezogen.

Solltet ihr an einem der geplanten Termine keine Zeit haben, meldet euch gerne bei den Leiter:innen des Tutoriums. Manchmal ist eine Terminänderung in Absprache mit den Teilnehmer:innen möglich. Auch ein späterer Einstieg ist kein Problem.

Wir hoffen auf reges Interesse und freuen uns auf eure Teilnahme!

             

Wie nehme ich an einem Autonomen Tutorium teil?

  • Um an einem Tutorium teilzunehmen, könnt ihr einfach zur ersten Sitzung erscheinen.
    Solltet ihr später dazustoßen, meldet euch am besten kurz per Mail unter der aufgeführten Adresse, dann bekommt ihr das Diskussionsmaterial und erfahrt auch, ob es Änderungen hinsichtlich Raum oder Zeit gab.
  • Die Tutor:innen stellen die Textgrundlagen und anderes Material zur Verfügung.
  • Die Tutorien beginnen in der Woche zum 29. April und finden dann wöchentlich statt.
    Normalerweise wieder am Campus Stadtmitte, in Ausnahmen auch noch per Videokonferenz.
  • Über Mailverteiler oder Messenger bleibt ihr für alle weiteren Absprachen in Kontakt.
             

Solltet ihr allgemeine Fragen zum Projekt haben, schreibt uns gerne an , bei Fragen zu den einzelnen Tutorien, schreibt den jeweiligen Tutor:innen einfach direkt.

Ihr möchtet selbst ein Tutorium anbieten? Gegen Ende der Vorlesungszeit wird eine Bewerbungsfrist durch Aushänge, über Mailverteiler und auf den Webauftritten des AStA bekanntgegeben. Die eingereichten Konzepte werden dann anonymisiert und von einer vom AStA gestellten Auswahlkommission diskutiert und ausgewählt. Alle weiteren Informationen dazu findet ihr auf unserer Übersichtsseite zur Ausschreibung.

Die Tutorien:

Aktivistische Intellektuelle: Von Kaffeehauskultur bis zu Institutspolitik

Theorien können den Lauf der Welt verändern. Doch dazu müssen sie zuerst einen Sog erzeugen können. Zahlreiche Theorien konnten ihre gesellschaftsverändernde Wirkung erst durch die Praxis ihrer Vertreter*innen und Institutionen entfalten und dadurch zu einer neuen Lebensform werden. Menschen, die Theorie betreiben, werden häufig als nüchterne Personen betrachtet, die allein am Schreibtisch sitzen und dort ihre Forschungsarbeit verrichten. Doch gibt es Beispiele aktiver Intellektueller, die sich ins Getümmel der Debatten und aktivistischen Communities werfen. Intellektuelle, die dadurch neue halböffentliche Räume zur praktischen Weiterentwicklung der Theorie schaffen. Im Tutorium möchten wir diese Theorie als Lebensform näher betrachten. Dazu werden wir mithilfe des Buches „Der nonkonformistische Intellektuelle“ von Alex Demirovic die praktische Seite der Frankfurter Kritischen Theorie anschauen und umkreisen verschiedene Begriffe aktivistischer Intellektueller. Als Vergleichsfolie werden wir die Existentialist*innen betrachten. Wie haben Sartre und Beauvoir im Nachkriegsparis eine Halböffentlichkeit in Cafés, Jazzkellern und Zeitschriften geschaffen um ihre Theorie der Freiheit im Gerangel des praktischen Lebens weiterzuentwickeln und auf politische Praxis Einfluss zu nehmen? Auf welche unterschiedlichen Weisen können wir die Rolle Intellektueller von der Kaffeehauskultur bis zur Institutspolitik verstehen?

Kontakt: Hêlîn (helin.oeztuerk[at]stud.tu-darmstadt.de)
Termin: Montag, 13:30
Erste Sitzung: 29.04.
Raum: S1|03/10

 

Theorie totaler Vergesellschaftung. Wolfgang Pohrts Theorie des Gebrauchswerts

Nach dem Fall der Mauer und seit dem Ende der Sowjetunion ist es, frei nach Slavoj Žižek, einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Stimmt das aber? In diesem Tutorium die Frage nach einer Theorie der totalen Vergesellschaftung entfaltet, und ihre Rolle in der Theorie des Gebrauchswerts von Wolfgang Pohrt verfolgt werden. Sind die Verhältnisse total? Gibt es neben dem in der kapitalistischen Gesellschaft so hoch gehaltenen Tauschwert auch ein Anderes, nämlich den Gebrauchswert? Ist dieser – als vom Tauschprinzip Unberührter vorgestellt – Kompass für eine Organisation der Produktionsverhältnisse abseits der gerade vorherrschenden? Für eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisse wieder zu ihrem Recht kommen, und der Gebrauch, nicht das monetäre Interesse an den Dingen im Vordergrund stehen. Diesen Fragen wollen wir uns anhand der Lektüre des Werkes von Pohrt annehmen.

Kontakt: David (dvschutzbach[at]googlemail.com)
Termin: Montags 16:15
Erste Sitzung: 29.04.
Raum: S215|204K

 

Carl Schmitt, kritischer Theoretiker von rechts?

Die aufgrund seines Antisemitismus und seiner Kollaboration mit den Nationalsozialisten umstrittene Liberalismuskritik Carl Schmitts ist die weltweit rezipierte ‚Theorie‘ eines „politischen Schriftstellers“ (Michael Th. Greven). Anliegen dieses Tutoriums ist es, den vermeintlichen Gegensatz von vernünftiger, rationaler Politik entgegen einer Vorstellung von „Freund-Feind-Politik à la Carl Schmitt“ verkomplizierend zu betrachten. Schmitts über politische Lagergrenzen hinweg bestehende Rezeption, demonstriert die ihn auszeichnende strukturelle Uneindeutigkeit. Die paradoxale Überschrift Carl Schmitt, kritischer Theoretiker von rechts? kann keine analytische Fragestellung sein. Vielmehr ist sie der Versuch, anhand der Analogie-Bildung zu vor allem „methodischen“ Motiven der kritischen Theorie eine Perspektive auf Schmitt zu erlangen, die, wie der Politikwissenschaftler Phillip Manow es ausgedrückt hat, nicht „den Weg des geringsten hermeneutischen Widerstandes“ geht. Eine Auseinandersetzung mit Schmitt ist nicht nur geistesgeschichtlich interessant, sondern auch, weil gegenwärtige Akteure, wie der AfD-Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah, unverkennbar „schmittianisch“ sprechen. Im Tutorium legen wir den Fokus auf mögliche Lesarten und Kritiken an Schmitt, seinem Verhältnis zu kritischer Theorie, dialektischen Argumentationsfiguren sowie seinem Verhältnis zu ‚Theorie‘ überhaupt.

Carl Schmitt, Critical Theorist from the Right?

Carl Schmitt's critique of liberalism is a classic of political theory which is controversial due to his collaboration with the National Socialists and his anti-Semitism. The paradoxical title "Carl Schmitt, critical theorist from the right?" is not intended as an analytical question. Rather, the question is an attempt to gain a perspective on Schmitt by drawing analogies to the "methodological" motifs of critical theory, which, as the political scientist Phillip Manow has put it, does not take "the path of least hermeneutical resistance". Schmitt is caught up in a peculiar self-contradiction which, through its self-referential form of immanence and antagonism, resembles the structure of a dialectical figure of argumentation, but clearly differs from it. A notion of progress is completely absent in Schmitt, whereas this is conceivable with a dialectical figure of argumentation. Using Schmitt to theorize the present seems necessary in a present in which states of emergency and hostility confront the liberal order. The constitutional debate, on the occasion of AfD, about the possibility of banning a party, as laid out in the German constitution, is just one example of this. The diction frequently encountered in the media that someone is an anti-democrat, not a political opponent, is another example of the problem that Schmitt addressed, namely that the political itself is political and therefore relative. If you are interested in Schmitt, Schmitt's relationship to critical theory and the problems of our democracy that can possibly be described in this way, then you are cordially invited to take part in this Tutorium. Participation does not require any prior knowledge and is suitable for all students.

Kontakt: Jonathan (schmittktvonrechts[at]gmail.com)
Termin: Montags 16:15
Erste Sitzung: 29.04.
Raum: S1|03/102

 

Probleme der zeitgenössischen Kunst als Probleme der Pädagogik: Über den Zusammenhang von Erziehung, Kunst und Antisemitismus

Die Debatte um die documenta 15 hat deutlich gemacht, dass die zeitgenössische Kunst einige Probleme hat. Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit wurden zahlreiche Werke gezeigt, die latent oder offen antisemitisch waren und eher an Propaganda als an klassische Kunstwerke erinnerten. Während im Kunstverständnis der vergangenen Epochen für sich stehende Kunstwerke die Betrachterin zum Sammeln subjektiver Eindrücke und ästhetischer Erfahrung einluden und damit Kunstgenuss als Baustein der allgemeinen menschlichen Bildung betrachtet wurde, wird dieses Spannungsfeld zwischen Eindruck und Erwartung der Rezipient:innen auf der einen, sowie Motivation und ‚Auftrag‘ der Künstler:innen auf der anderen Seite, in der zeitgenössischen Kunst neu verhandelt; mit teilweise fragwürdigem Ausgang. Wir möchten uns deshalb im Tutorium der Frage widmen, wie Bildung durch Kunst ohne Agitation und Überredung, sondern durch Emanzipation und in antisemitismuskritischer Perspektive aussehen kann. Dazu lesen wir klassische Texte zum Verhältnis von Bildung und Kunst von Schiller bis zu Adorno und Benjamin, aber auch neuere Positionen zu diesem Spannungsfeld. Darüber hinaus wollen wir uns anhand von konkreten Beispielen in Ausstellungen mit dem kritikwürdigen oder emanzipatorischen Gehalt von Werken der Gegenwartskunst beschäftigen und in der gemeinsamen Diskussion herausfinden, wie eine progressive Verhältnisbestimmung aussehen kann.

Kontakt: Johannes (s9189060[at]stud.uni-frankfurt.de)
Termin: Montags 18:05
Erste Sitzung: 29.04.
Raum: S1|03/10

 

Das Theater der Unterdrückten im Kontext von Flucht und Migration – eine praxisorientierte Auseinandersetzung mit Augusto Boal und Paulo Freire

Situationen und Gründe für Widerspruch gibt es viele: Wenn eine Prüfung kurzfristig nach vorn verlegt wird und auf einen Schlag eine zweistellige Prüfungssumme anfällt, wenn die Entscheidung getroffen wird, dass eine Gruppe Geflüchteter Tickets und Bücher bezahlt bekommt, andere Geflüchtete aber nicht, oder wenn das Essen in der Mensa unbezahlbar wird, weil nicht immatrikulierte Geflüchtete den vollen Preis zahlen müssen. Durch den Einsatz von Methoden aus dem Theater der Unterdrückten nach Augusto Boal, der Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten in den Bereich performativer Übungen übersetzt, sollen Situationen, in denen Geflüchtete sich als sprachlos erlebt haben, anhand von Situationen aus dem Alltag in der Gruppe ausgedrückt und dargestellt, Erfahrungen der Machtlosigkeit in Handlungsfähigkeit überführt und neue Handlungsweisen erprobt werden. Bei Interesse kann diese zunächst körperlich und verbal gestagte Handlungsfähigkeit in einem zweiten Schritt in Text gebracht werden. Die Erprobung der Methoden wird durch eine begriffsorientiere Auseinandersetzung mit Primär- und Sekundärtexten ergänzt. Das Tutorium ist insbesondere für Menschen mit Fluchterfahrung und Deutsch als Fremdsprache, aber auch für weitere interessierte Personen angelegt. Es findet an verschiedenen Orten in deutscher und englischer Sprache in Doppelsitzungen statt.

Theatre of the Oppressed in the Context of Flight and Migration. A Praxis-oriented Take on Augusto Boal and Paulo Freire

There are many situations and reasons for objections: When an exam is moved forward at short notice and a double-digit exam fee is suddenly imposed, when the decision is made that one group of refugees will get tickets and books paid for, but other refugees will not, or when the food in the canteen becomes unaffordable because non-matriculated refugees have to pay the full price. By using methods from Augusto Boal's Theatre of the Oppressed, based on Paulo Freire's Pedagogy of the Oppressed into the field of performative exercises, situations in which refugees have experienced themselves as speechless are to be expressed and presented in the group using situations from everyday life. Experiences of powerlessness are to be transformed into the ability to act, and new ways of acting are to be tested. If there is interest, these situations, which would be initially demonstrated physically and verbally, can be put into text in a second step. The testing of the methods is supplemented by a concept-oriented examination of primary and secondary texts. While the tutorial is primarily aimed at individuals with refugee Background and those learning German as a foreign language, it also welcomes anyone else who is interested. The sessions will be held in various locations in Frankfurt and Darmstadt in both German and English. The tutorial takes place every two weeks in double-sessions.

Kontakt: Arbeitskreis Flucht- und Migrationspädagogik (theatertutorium[at]proton.me)
Termin: Dienstags 13:30
Erste Sitzung: 30.04.
Raum: S2|15/404K

 

Wirtschaftsdemokratie. Modelle der Demokratisierung der ökonomischen Sphäre zwischen demokratisch-sozialistischer Utopie und realem Kapitalismus

Eine Institution, die in Herrschende und Beherrschte unterteilt, in der Beherrschte die willkürlichen Befehle der nicht-gewählten Herrschenden ausführen müssen, in der alle jederzeit überwacht werden können, in denen Missliebigen die Exilierung droht, die den Beherrschten private Entscheidungen vorgeben kann, … - dies skizziert keine dystopische, politische Diktatur, sondern den modernen Arbeitsplatz im real existierenden Kapitalismus.

Warum die ökonomische Sphäre (bisher) undemokratisch organisiert ist, inwiefern politische Demokratie und wirtschaftliche Autokratie (nicht) vereinbar sind und wie und warum Wirtschaft und Unternehmen auch demokratisch organisiert werden können und sollten, steht im Mittelpunkt des Autonomen Tutoriums “Wirtschaftsdemokratie”.

In einem ersten Schritt sollen normative/(politik-)philosophische und ökonomische Begründungen der (Nicht-)Demokratisierung der Wirtschaft rekonstruiert und dabei mitgedacht werden, wie diese praktisch umgesetzt werden könnten. In einem zweiten Schritt soll dies anhand bestehender theoretischer Modelle oder bereits teilweise umgesetzte Formen der Wirtschaft- und Unternehmensdemokratie konkretisiert werden.

Auf Grundlage von kurzen Lektüreausschnitten sollen normative und ökonomische Begründungen sowie theoretische und umgesetzte Modelle gemeinsam, interaktiv und kritisch nachvollzogen werden - um begründen zu können, warum Wirtschaft (nicht) demokratisch gestaltet werden sollte.

Economic Democracy: Models of Democratization of the Economic Sphere Between Democratic-Socialist Utopia and Real Capitalism

An institution that is divided into rulers and ruled, in which the ruled must carry out the arbitrary orders of the unelected rulers, in which everyone can be monitored at any time, in which those who disagree are threatened with exile, which can dictate private decisions to the ruled, ... - this does not outline a dystopian political dictatorship, but the modern workplace in real existing capitalism. Why the economic sphere is (so far) undemocratically organized, to what extent political democracy and economic autocracy are (not) compatible and how and why the economy and companies can and should also be organized democratically is the focus of the Autonomous Tutorial "Economic Democracy".

In a first step, normative/(political) philosophical and economic justifications for the (non-)democratization of the economy will be reconstructed and how these could be implemented in practice will be considered. In a second step, this will be concretized on the basis of existing theoretical models or already partially implemented forms of economic and corporate democracy. On the basis of short reading excerpts, normative and economic justifications as well as theoretical and implemented models are to be jointly, interactively and critically traced - in order to be able to justify why the economy should (not) be designed democratically.

Kontakt: Tim (timrobin.rieth[at]stud.tu-darmstadt.de)
Termin: Dienstags 16:15
Erste Sitzung: 30.04.
Raum: S1|03/102

 

E.P. Thompson: Grenzen und Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung

Edward Palmer Thompson (1924-1993), Historiker, Mitglied der Kommunistischen Partei, Friedensaktivist und intellektueller Wegbereiter der Neuen Linken. Obwohl Thompsons historiographische Schriften für die Sozialgeschichte in mancher Hinsicht bahnbrechend waren, werden sie heute im deutschsprachigen Raum nur noch marginal rezipiert. Auch in linken Kreisen in Deutschland sind seine Person und sein Werk kaum noch bekannt. Dabei zeichnet sich Thompsons Werk dadurch aus, dass er historische Theorie, Forschung und Erzählung nicht nur als Einheit verstand, sondern in seinen Darstellungen auch als solche zu verbinden wusste. In seinen Schriften entwickelte er mehrere Konzepte, mit denen er versuchte, gerade den von der offiziellen Geschichtsschreibung Vergessenen und Marginalisierten eine Stimme zu geben und damit ihr Wirken in der Geschichte aufzuzeigen: Ihnen letztendlich die Geschichte zu geben, die ihnen von „offizieller“ Seite verweigert wurde und teilweise noch wird. Dabei wandte er sich einerseits von einer traditionellen Geschichtsschreibung ab, die sich auf die „großen Männer“ und ihr Wirken konzentrierte, andererseits aber auch von einer Geschichtsschreibung, die, gerade in der marxistischen Tradition seiner Zeit, versuchte, historische Prozesse allein aus objektiven Gesetzmäßigkeiten abzuleiten.

Das Tutorium soll sich den impliziten und expliziten theoretischen Überlegungen Thompsons widmen und diese kritisch diskutieren. Die zentralen Fragen, die das Tutorium leiten werden, sind: In welcher Form helfen theoretische (genauer: materialistische) Kategorien, den Prozess der Klassenbildung als historisch gewordenen Prozess zu begreifen? Oder umgekehrt: Inwiefern können theoretische Kategorien den Blick auf konkrete historische Verläufe verstellen?

E.P. Thompson: Limitations and Critique of Materialist Historiography

Edward Palmer Thompson (1924-1993), historian, member of the Communist Party, peace activist and intellectual pioneer of the New Left. Although Thompson's historiographical writings were groundbreaking for social history in many respects, they are only marginally received in German-speaking countries today. Even in left-wing circles in Germany, his person and his work are barely known. Yet Thompson's work is characterised by the fact that he not only understood historical theory, research and narrative as a unity, but also knew how to combine them as such in his accounts. In his writings, he developed several concepts with which he attempted to give a voice to those forgotten and marginalised by official historiography, thereby highlighting their impact on history: To ultimately give them the history that was, and in some cases still is, denied to them by the "official" side. In doing so, he turned away from a traditional historiography that focussed on the "great men" and their work, but also from a historiography that, especially in the Marxist tradition of his time, attempted to derive historical processes solely from objective laws.

The tutorial will focus on Thompson's implicit and explicit theoretical considerations and discuss them critically. The central questions that will guide the tutorial are: In what way do theoretical (more precisely: materialist/marxist) categories help to understand the process of class formation as a historical process? Or vice versa: To what extent can theoretical categories obscure the view of concrete historical processes?

Kontakt: AK Historischer Materialismus (d.sanchez.namenyi[at]gmail.com)
Termin: Dienstags 16:15
Erste Sitzung: 30.04.
Raum: S1|03/104

 

Naturrecht und Geschichte. Leo Strauss zwischen orthodoxem Konservatismus und adäquater Zeitkritik?

Im philosophischen Diskurs inzwischen (berechtigterweise?) beinahe zur Unkenntlichkeit verblasst, spielte Leo Strauss in US-amerikanischen Debatten hingegen stets eine führende, gleichwohl umstrittene Rolle. Wegen seiner jüdischen Herkunft war Strauss gezwungen, in den 1930er Jahren vor dem Faschismus zu fliehen. Nach Aufenthalten an der New School for Social Research fand Strauss an der Universität Chicago seine akademische Heimat. Mit anderen Exilant:innen, wie Hannah Arendt oder Karl Löwith, pflegte er regen Austausch. Gemeinsam werden wir anhand seines Hauptwerks „Naturrecht und Geschichte“ versuchen, ein Verständnis seiner Philosophie zu entwickeln. Strauss legt keine geschlossene Theorie im strengeren Sinne vor, sondern entwickelt in Auseinandersetzung mit antiken Autoren und der Aufklärung eher hintergründig eigene Standpunkte. Seine Kritik am Liberalismus entsteht aus der kommentierenden Exegese der Werke von Hobbes, Locke, Rousseau, Machiavelli und Burke. Geistreiche Anmerkungen zu den benannten Autoren bieten die Möglichkeit, die Aufklärung kritisch in neues Licht zu rücken und intellektuelle Schwachstellen aufzuspüren (umgekehrt aber auch gegen Einwände zu verteidigen!) Strauss ist überzeugt, dass jedem philosophischen Text ein doppelter Boden zugrunde liegt und Denker:innen ihre Botschaften verschlüsseln, da sie in einem ständigen Spannungsverhältnis zur politischen Öffentlichkeit stehen. Im Rahmen des Tutoriums werden wir versuchen, seine Texte zu lesen und es wird sich zeigen, ob wir zur kongenialen Leserschaft zählen oder in seiner Sicht für die Lektüre philosophischer Texte gänzlich ungeeignet sind.

Natural Law and History. Leo Straus Between Orthodox Conservativism and Adequate Time Criticism

In philosophical discourse, Leo Strauss has now (rightly?) faded almost beyond recognition, but he has always played a leading, although controversial, role in USAmerican debates. Because of his Jewish origins, Strauss was forced to flee from fascism in the 1930s. After spending time at the New School for Social Research, Strauss found his academic home at the University of Chicago. He maintained a lively exchange with other exiles such as Hannah Arendt and Karl Löwith. Together, we will try to develop an understanding of his philosophy based on his main work "Natural Law and History". Strauss does not present a theory in the strictest sense, but rather develops his own points of view by engaging with ancient authors and the Enlightenment. His criticism of liberalism arises from his commentary on the works of Hobbes, Locke, Rousseau, Machiavelli and Burke. His Comments on these authors offer the opportunity to critically shed new light on the Enlightenment and to identify intellectual weaknesses. Strauss is convinced that every philosophical text is based on a double bottom and that thinkers encode their messages because they are in a constant state of tension with the political public. As part of the tutorial, we will try to read his texts and it will become clear whether we are congenial readers or, completely unsuitable for reading philosophical texts in his eyes.

Kontakt: Tim (S7079237[at]rz.uni-frankfurt.de)
Termin: Mittwochs 14:25
Erste Sitzung: 08.05.
Raum: 1|03/164

 

Feminismus intersektional – Anspruch und Blindflecke (ACHTUNG: Beginn erst am 15.5.)

Spätestens seit dem Aufkommen der metoo-Bewegung scheint Feminismus im westlichen Mainstream angekommen. Vorangegangen sind viele Jahre immer sichtbarerer akademischer und literarischer Auseinandersetzung mit der Thematik. Auch ein teilweiser Erfolg politischer Kämpfe um Gleichberechtigung von weiblichen gemarkerten und queeren Menschen hat das vermutlich entscheidend begünstigt.

Das dies jedoch kein Ende der Unterdrückung bedeutet wird immer klarer: Die Gesellschaft begibt sich im letzter Zeit wieder in autoritäre, teils faschistoide Rückschritte, aber auch in den feministischen Auseinandersetzungen selbst werden Widersprüche und ideologische Niederschläge sichtbar. Manch transfeindliche, mittlerweile offen reaktionär auftretende älteren feministische Kreise gehen mit schlechtem Beispiel voran.

Intersektionaler Theorie und Praxis allerdings verspricht Unterdrückung in ihrer Verschiedenheit verschränkt zu begreifen und unterschiedliche Kämpfe zu vereinen. Nach den Simchat-Torah-Massakern wird allerdings für viele immer offensichtlicher, dass es auch bei Vertreter*innen intersektionaler Ansprüche einen großen Blindfleck zu geben scheint: Bei vorgeblicher Solidarisierung mit der palästinensischen Sache geraten Jüdinnen*Juden immer expliziter ins Hintertreffen.

Wie andere Wege in Theorie und Praxis gefunden werden können, um dem feministischen Selbstanspruch wieder gerechter zu werden, soll hier mit erfahrungsorientierten Ansätzen lesbisch-queerer Aktivist*innen der frühen Stunde nachgegangen werden.

Kontakt: Jane (at-feminismus[at]riseup.net)
Termin: Mittwochs 16:15
Erste Sitzung: 15.05.
Raum: S1|03/164

 

„Most Things Haven’t Worked Out“ – Nach der Kritischen Theorie?

Wenn Frank Böckelmann 1966 noch das Überleben zur primären Aufgabe der Kritischen Theorie erklärte, so gilt es heute einzusehen, dass dies nicht gelungen ist. Kritische Theorie ist tot. Zugleich treibt sie jedoch als Zombie weiter ihr Unwesen an der Universität. Anstatt sich mit ihrem Ende zu befassen, geht dieses in akademischer Betriebsamkeit zwischen Aktualisierung, Rekonstruktion sowie sonstiger Vereinnahmung jedoch seit jeher unter. Es ist Zeit, dem ein Ende zu bereiten und diesem Zombie endlich zwischen die Augen zu schießen.

Wo die Texte der Kritischen Theorie immer auch die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik sowie deren Vergänglichkeit aufzeigten, findet sich heute stets ein Reflexionsabbruch, der vermeidet, die unliebsamen Konsequenzen aus der eigenen Kritik zu ziehen. Diese anzuerkennen ist jedoch Bedingung dafür, dem Selbstbetrug zu entkommen, um das Denken nicht zur Beschwörung verkommen zu lassen. Solches Denken meinte für die Kritische Theorie immer auch „philosophisches Durcharbeiten des Scheiterns“ (Christian Voller), also Enttäuschungsreflexion. Dieses Durcharbeiten lässt sich dabei einerseits als Trauerarbeit begreifen, andererseits ist es der Vollzug von Enttäuschung in ihrer Doppeldeutigkeit als Aufklärung und Kränkung zugleich. Dieser Unternehmung soll sich das Tutorium widmen, um gemeinsam der Frage nachzugehen, was nach der Kritischen Theorie kommt, was aus ihrem Ende folgt.

Kontakt: Jonas (erkennedielage[at]gmail.com)
Termin: Mittwochs 16:15
Erste Sitzung: 08.05.
Raum: S1|03/161

 

Diktaturen der „Freien Welt“ – Staatsterrorismus in Lateinamerika während des Kalten Krieges

Mitte bis Ende der siebziger Jahre befanden sich so gut wie alle lateinamerikanischen Staaten in der Kontrolle von Militärdiktaturen. Neben dem Erlangen der Macht durch einen Militärputsch und ihren äußerst freundlichen Beziehungen zu den USA, einte diese Regime ihre Gewilltheit zu brutalen Repressionen gegen ihre Bürger, im Namen des Kampfes gegen "die Unterwanderung durch den Kommunismus". Dies äußerte sich unter anderem in dem Verschwinden von Personen, weitverbreiteter Folter und Assassinationen. Die Opfer waren dabei jedoch keineswegs immer militante Kommunisten. Treffen konnte es im Prinzip jeden, dessen Ansichten als etwas zu weit links gedeutet werden konnten.

Ruth Blakeley nennt das, was während des Kalten Kriegs in Lateinamerika passiert ist, "Staatsterrorismus". Die Staaten benutzten die gleichen, gewalttätigen Mittel des Terrorismus und verfolgten dabei auch dessen Ziel, Angst in der Bevölkerung zu erzeugen. In diesem Tutorium wollen wir diese geschichtliche Periode etwas genauer betrachten. Dabei soll es hauptsächlich um den Aufstieg Pinochets in Chile, den sogenannten "Dirty War" in Argentinien sowie um den Beginn von Operation Condor in 1975 gehen. Letzteres war der Zusammenschluss der Geheimdienste von Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Paraguay, Peru und Uruguay um durch Kooperation das Aufspüren von politischen Gegnern zu erleichtern.

Dictators of the 'Free World': State Terrorism in Latin America in the Cold War Period

By the mid- to late 70s, almost all Latin American states had fallen under rule of violent military dictatorships. What united them beyond their coming to power through military coups and their friendly relations to the US, was their brutal repression in the fight against 'the subversion of communism'. It included the widespread use of torture, disappearances and assassinations. The victims were by no means only militant communists and other political opponents of the regimes. The violence was directed at basically anyone whose views could have been deemed a bit too left-wing.

Ruth Blakeley calls what happened in Latin America in the Cold War period 'state terrorsim'. The Latin American states used the same brutal methods and with the same overall goal – to instill fear in the population – as terrorists would. In this course we want to shed a bit of light on this piece of recent history, primarily focusing on the rise of Pinochet in Chile, the 'Dirty War' in Argentine and the founding of 'Operation Condor' in 1975, through which the intelligence agencies of Argentine, Bolivia, Brasil, Chile, Paraguay, Peru and Uruguay joined forces to cooperate in the hunt for political opponents.

Kontakt: Jan (at.baudrillard[at]gmail.com)
Termin: Donnerstags 14:25
Erster Termin: 02.05.
S1|03/102

 

Linke und communistische Kritik an Michel Foucault

Michel Foucault dürfte einer der einflussreichsten Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Sein Werk, welches bereits zu seinen Lebzeiten große Aufmerksamkeit erlangte hat in den europäischen und nordamerikanischen Universitäten eine Resonanz entwickelt, die bis heute anhält. Zahlreiche Akademikerinnen berufen sich heute (zu Recht oder zu Unrecht) methodisch oder „normativ“ auf Foucault. Die Würdigungen sind zahlreich und eine Sozialwissenschaft oder Philosophie vor / ohne kann man sich nicht mehr so recht vorstellen. Dabei wird er vom „Juste Milieu mit Immatrikulationshintergrund“ der Linken zugeschlagen, der man sich selbst auch irgendwie zurechnet. Durch diese Selbstvergewisserung gerät aus dem Blick, wie das Verhältnis von Foucault und der Linken eigentlich aussah. Deshalb möchten wir uns gemeinsam im Tutorium mit der communistischen Kritik an Foucault und u.a. mit dem Vorwurf des Aufklärungsverrats, der spätestens durch sein Verhalten während der "Islamischen Revolution" im Iran auftauchte, aber auch mit theoretischen Prämissen, die eine Kritik der politischen Ökonomie vernachlässigen, beschäftigen.

Kontakt: Philipp (kritikanfoucault[at]mail.de)
Termin: Donnerstags 16:15
Erster Termin: 02.05.
S1|03/11

 

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