Christoph Miemietz 3. Oktober 2016 - 20:00
Folgende Autonome Tutorien finden in diesem Semester statt. Sofern nicht anders vermerkt, beginnen die Tutorien in der Woche zum 24. Oktober und finden wöchentlich statt. Ein späterer Einstieg ist ohne Probleme möglich. Solltet ihr Interesse daran haben, an einem der Tutorien teilzunehmen, jedoch zum angegebenen Termin keine Zeit habt, schreibt unbedingt eine Mail an die Tutor_in. Meist kann ein Termin gefunden werden, der allen Teilnehmer_innen entgegen kommt. Häufig gestellte Fragen zu den Autonomen Tutorien findest Du hier. Allgemeine Infos zu den Tutorien findest Du hier.
Arbeiten, Leben, Funktionieren – Der Mensch als Maschine und die Maschine als Lebewesen
Die Kybernetik beschreibt lebende Organismen und soziale Strukturen nach den Prinzipien der Steuerung und Regelung von Maschinen. Die Kognitionswissenschaften sehen davon ab, ob ein Denkprozess in organischen oder künstlichen Systemen stattfindet, um so kognitive Leistungen mit Hilfe von Computermodellen simulieren zu können. In den Neurowissenschaften wird das zentrale Nervensystem des Menschen in Kooperation mit angrenzenden Wissenschaftsbereichen wie der Informationstechnik, Informatik und Robotik untersucht.
Nach diesem Muster zieht sich die Darstellung des Menschen als Maschine seit Anbruch der Neuzeit durch die modernen Wissenschaften. Dies lässt sich nicht nur in der computerorientierten Forschung der letzten 50 Jahre erkennen, sondern folgt einer langen Tradition. Angefangen mit dem Aufstieg des mechanistischen Weltbildes, welches sich zum generellen Paradigma wissenschaftlicher Rationalität aufgeschwungen hat, zeigt es sich in allen Bereichen der Humanwissenschaften und ist konstitutiv für die Medizin, die Biologie und Psychologie. In diesen Wissenschaften des Lebendigen wird durch die Setzung des Menschen als komplizierte Maschine der Organismus zum Mechanismus. Die Maschine erscheint darin als lebendig, so als hätte man vergessen, dass man das Uhrwerk einst aufziehen musste und es nur daher jetzt noch läuft. Obwohl der Maschine durch die Speicherung von Energie und deren fortwährenden Umwandlung in Bewegung eine gewisse Dynamik anhaftet, wird durch ihre Gleichsetzung mit dem Lebenden das Unregelmäßige zum Regelmäßigen, das Widersprüchliche zum Identischen und so eine These dieses Tutoriums: Das Lebende zum Toten.
Der amerikanischen Geschichtswissenschaftler Anson Rabinbach beschreibt wie mit dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Taylorismus und dessen deutscher Verwandten, der Arbeitswissenschaft, wissenschaftliche Erkenntnisse dieser Art Einzug in die industrielle Gestaltung der Arbeit und damit in die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse finden. Die individuellen Aspekte der Arbeit verschwinden in einer kleinteiligen Zerlegung des nun auf Leistung optimierten Gesamtprozesses. In diesen fließt die Arbeitskraft als wandelbare universelle Größe mit hinein. Gespeist wird sie durch die von der Arbeiterschaft eingenommene Menge an Kalorien. Es spielt keine Rolle mehr ob diese universelle Kraft von einer Maschine oder von einem Menschen aufgebracht wird. Der Mensch wird zum „Motor Mensch" und die „konkrete Arbeit“ verschwindet hinter der „abstrakten Arbeit“.
Entgegen der Darstellung Rabinbachs lässt sich dieser Prozess aber nicht als einseitige Veränderung der ökonomischen Verhältnisse durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse verstehen. Vielmehr sind die ökonomischen und wissenschaftlichen Vorstellungen dieser Zeit bereits soweit ineinander verschränkt, dass sich ein Vorauseilen der Wissenschaften vor den (ökonomischen) Verhältnissen nicht aufzeigen lässt. Die Fragestellung muss sich an dieser Stelle von der Festlegung eines Ursprungsprinzips hin zu der Beleuchtung einer Wechselbeziehung verschieben: Dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ökonomie.
Zum Ansatz einer Kritik an dieser Entwicklung reicht es nicht die Folgen der Maschinisierung des Menschen zu erläutern. Es müssen die Fragen nach den Gründen dieser Darstellung formuliert werden: Mit diesen Fragen rückt neben dem Verhältnis von Wissenschaft und Ökonomie ein weiteres Spannungsfeld in den Fokus: Das Verhältnis von Wissenschaft und Technik.
Entlang dieser beiden Spannungsfelder soll das Tutorium die Fragen von Arbeiten, Leben und Funktionieren verfolgen und ihre unentwegte Verwicklung in die ökonomischen Verhältnisse offen legen. Orientierung soll dabei die Aufsatzsammlung von Georges Canguilhem „Die Erkenntnis des Lebens“ bieten. Mit den Überlegungen zum Begriff des Lebens und dessen Behandlung in den Wissenschaften wird ein Ansatzpunkt gewählt, welcher in der Biologie und den Humanwissenschaften zu verorten ist. Das Tutorium richtet sich aus diesem Grund nicht nur allgemein an interessierte aus den Ingenieurs und Technikwissenschaften, sondern insbesondere auch an TeilnehmerInnen aus der Biologie und den Humanwissenschaften mit dem Ziel die Reflexion elementarer Grundbegriffe in den Natur- und Technikwissenschaften, entgegen der Tendenz im akademischen Alltag, zum zentralen Teil eines kritischen Studiums werden zu lassen.
Freitags 16:15–17:45
Erstes Treffen: 28. Oktober
Kontakt: Timm ( timm.behnecke@gmail.com )
Ort: S1|02/34
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Klasse, Masse(n), Multitude
Wenn sich in Europa rassistische Massen formieren, wenn in den kurdisch besetzten Gebieten die Revolution ausgerufen wird, wenn die Massen sich kriegerisch im Kampf für einen islamischen Staat organisieren, dann zeigt all das an, wie sehr eine Reflexion über die herrschenden Formen von Vergesellschaftung, von Subjektivität notwendig ist. Der postmoderne Gedanke vom Ende der Massengesellschaft scheint so zumindest in seiner Vulgarisierung als „Patchwork der Minderheiten“ (Lyotard) zunehmend an Evidenz zu verlieren. So disparate Ereignisse wie der sog. arabische Frühling, die „Maidan“-Bewegung und der daraus entstandene Bürgerkrieg zwischen nationalisierten und militarisierten Massen usw. zeigen, dass die Massen nach wie vor präsent sind und Geschichte machen (nur welche und wie?).
Der Frage, wie soziale Kollektivität zu denken sei, soll in diesem Tutorium nachgegangen werden. Drei miteinander verwobene Begriffe dienen dabei als Ausgangspunkt: Klasse, Masse(n) und Multitude. Ihrer Verwendung im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie soll anhand zentraler Texte nachgespürt werden, um ihre Brauchbarkeit für eine Reflexion heutiger politischer Konflikte und sozialer Bewegungen zu diskutieren.
Mittwochs 16:15–17:45
Erstes Treffen: 26. Oktober
Kontakt: Ivo ( ivo.eichhorn@googlemail.com )
Ort: S1|03/161
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Von technischen Dingen und philosophischen Undingen:
Bruno Latour und das Problem des Materialismus
Was ist eigentlich Technik? Schlägt man im Duden nach, so erhält man die Antwort, dass der Ausdruck Technik die „Gesamtheit der Maßnahmen, Einrichtungen und Verfahren“ bezeichne, „die dazu dienen, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften für den Menschen praktisch nutzbar zu machen“. In einer zweiten Bedeutung meine Technik außerdem die „Methode des Vorgehens“, also ein auf Wissen gestütztes Handeln, das allgemein zugänglich bzw. erlernbar sei. In beiden Fällen scheint Technik damit auf den Menschen bzw. dessen Ziele und Zwecke ausgerichtet, wobei im ersten Fall die objektiv-materielle und im zweiten die subjektiv-kognitive Seite dieser Beziehung hervorgehoben wird.
Wenig verwunderlich richtet sich ein Großteil der Kritik gegen die Technik dann auf eine vermeintliche Umkehrung dieses Herrscher-Diener-Verhältnisses: Statt dem Menschen und dessen humanen Zwecken zu dienen, führe Technik vielmehr zu einem Verlust an Selbstständigkeit und Reflexionsvermögen. Wenngleich diese Einwände auch nicht falsch sind, entsprechen sie jedoch auch offensichtlich nicht den Tatsachen. Verdächtig sollte zumindest scheinen, dass sie dem oben skizzierten 'Herrschaftsverhältnis' insofern zustimmen, als ihre Kritik zuletzt bloß auf dessen Verletzung oder Umkehrung gründet.
Doch was wäre, wenn bereits die Voraussetzung dieser Kritik falsch wäre? Was, wenn sich die Beziehung zwischen Mensch und Technik eben nicht einfach als eine bloß instrumentelle analysieren und kritisieren ließe? In unserem Tutorium wollen wir uns eben dieser Frage widmen. Ausgehend von den Arbeiten des französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latours soll es hierbei nicht nur um „technische“ Detailfragen einer angemessenen Kritik, sondern vor allem um eine Bestimmung der Beziehung von Mensch und Technik im Allgemeinen gehen. In diesem Sinne freuen wir uns auf einen möglichst interdisziplinären Austausch! Als Diskussionsgrundlage sind Auszüge verschiedener Werke von Bruno Latour vorgesehen. Die genaue Auswahl wird zu Beginn der Veranstaltung abgesprochen.
Donnerstags 18:05–19:35
Erstes Treffen: 27. Oktober
Kontakt: Jörn ( make-critique-great-again@gmx.de )
Ort: S1|03/164
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„Familie“ als Keimzelle der Rechten – Kritik des Familismus
Die Formel von der „Familie als Keimzelle der Nation“ hat für die rechts-konservative Ideologie einen zentralen Stellenwert. Drei Gründe lassen sich hierfür hervorheben: Erstens, stellt die positive Bezugnahme auf die Ehe, Kinder und häusliche Erziehung (bzw. die Warnung vor deren Degeneration) eine breite ideologische Klammer für bürgerlich-konservative bis rechtsextreme Gruppen dar. Wie sich nachweisen lässt, lädt dies auch zunehmend zu breiten politischen Allianzen im rechten Spektrum ein.
Zweitens, ist die „Familie“ (gemeint ist dabei immer die „Kern-Familie“) ein zentraler Knotenpunkte für mannigfaltige psychologische Momente der Rechten: Hier kommen Antifeminismus und Homophobie ebenso zusammen wie der Wunsch nach alten, stabilen Verhältnissen, sowie die Angst vor dem zahlenmäßigen Überranntwerden der „eigenen schwindenden Nation“ („Geburten-Dschihad“).
Und drittens stellt die „Familie“ den zentralen Anker für ein gepflegtes konservatives Gesellschaftsbild überhaupt dar: In ihr sollen die Widersprüche zwischen Individuum und Gesellschaft versöhnt und durch wertorientierte Erziehung und eheliche Bindung langfristig in natur- oder gottgewollte, sittliche Substanz übergehen. Oder anders formuliert: Wenn in Deutschland keine Kinder mehr geboren werden „ist etwas faul im Staat“.
Vor diesem Hintergrund widmet sich dieses Autonome Tutorium dem Stellenwert der Bezugnahme auf „Familie als Keimzelle der Nation“ im rechts-konservativen Denken. Auf einer theoretischen Grundlage soll dies kritisch aufgegriffen, und dessen Widersprüche und implizite Ausgrenzungen offengelegt werden. Prinzipielle Ansätze liefern hierfür die Kritische Theorie und die Queer-Theory, die den Schwerpunkt im Tutorium bilden werden. Kenntnisse hiervon werden nicht vorausgesetzt, sondern sollen gemeinsam erarbeitet werden.
Montags 18:05–19:35
Erstes Treffen: 24. Oktober
Kontakt: Jan-Frederic ( we-are-familism@gmx.de )
Ort: S1|15/138
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Kritik der Human-Animal Studies
Spätestes seit dem sprunghaften Popularitätsanstieg vegan-vegetarischer Ernährung in den letzten fünf Jahren rückt die Frage, welche Bedeutung Tiere in der Gesellschaft haben in den Fokus der Öffentlichkeit. Durch neuere naturwissenschaftliche Forschungen zu den kognitiven Kompetenzen von Primaten und anderen Tieren, sowie der Feststellung ihrer Leidensfähigkeit, der Sichtbarmachung der Auswirkung des weltweiten Tierkonsums auf das globale Klima einerseits und einer Erweiterung des Blicks der Sozialwissenschaften und der Philosophie auf die „Ränder der Gesellschaft“ und die damit verbundenen Erforschung der kulturellen Interaktion von Mensch und Tier in den Jahren nach dem Ende des Realsozialismus andererseits, kommt es zu einer Neubewertung der Mensch-Tier-Verhältnisse. Die klassische und sehr klare Trennung der beiden Gattungen, die für die Moderne konstitutiv ist, scheint ins Wanken zu geraten.
Ausgehend von diesen Beobachtungen wollen wir uns im Tutorium mit der Bedeutung von Tieren in der Gesellschaft und ihren möglichen rechtlichen und ethischen Status verständigen, sowie eine kritische Beleuchtung von Wissenschaftsströmungen, wie den „Human-Animal-Studies“ als auch Tendenzen moderner Tierrechtsbewegungen, die geeignet erscheinen, menschliche Würde und Individualität zu negieren und damit auch Tendenzen von Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit Tür und Tor zu öffnen, vornehmen. Anhand einer interdisziplinären Textauswahl, die biologische, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung mit Philosophie und Gesellschaftskritik verbindet, soll danach gefragt werden, wie ein aufgeklärtes Mensch-Tier-Verhältnis gestaltet sein kann, das nicht in Ideologie und Barbarei umschlägt.
Montags 18:05–19:35
Erstes Treffen: 24. Oktober
Kontakt: Johannes & Martin ( sapens_martin@gmx.de )
Ort: S1|15/238
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Strange Love – Die Beziehung zwischen Mathematik und Physik
Bereits seit vielen Jahrhunderten sind die Naturwissenschaften ein wesentlicher Antrieb für Weiterentwicklungen in der Mathematik. Viele mathematische Fragestellungen haben ihren Ursprung in den Naturwissenschaften. Die mathematischen Teilgebiete der Differentialrechnung, Differentialgeometrie und Variationsrechnung, um nur einige zu nennen, erhielten bei ihrer Entwicklung entscheidende Impulse aus der Physik. Umgekehrt ist es oft die Mathematik, die den Naturgesetzen ihre Formulierung ermöglicht und für die große Vorhersagekraft physikalischer Theorien sorgt. Dieses Tutorium widmet sich dem fruchtbaren Wechselspiel zwischen Mathematik und Physik. Wissenschaftshistorisch liegt der Schwerpunkt hierbei auf der Entwicklung der Quantenmechanik (ab 1925). Diese Periode großer wissenschaftlicher Umwälzungen führte im besonderen Maße zu neuen auch ganz grundsätzlichen Fragestellungen. Mit folgenden Fragen wollen wir uns auseinandersetzen: Was ist Mathematik? Was ist Physik? Wo liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Disziplinen? Ist eine Trennung überhaupt sinnvoll? Wie kommt es, dass die Physik mit einer mathematischen Beschreibung der Natur derartig erfolgreich ist? Wie viel Mathematik braucht die Physik? Lehrt man Mathematik am besten indem man sich Intuition aus der „echten“ Welt der Physik leiht? Wenn immer möglich versuchen wir einen historischen Bezug einzuarbeiten.
Dieses Tutorium verstehen wir als eine eine Plattform, für alle Fragestellung im Grenzgebiet zwischen Mathematik und Physik. Je nach Interesse können verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden. Das Tutorium eignet sich freilich besonders für Studierende der Mathematik und Physik, richtet sich aber explizit an jeden mit Interesse am Thema.
Aktualisiert: Donnerstags 15:20–17:00
Erstes Treffen: 27. Oktober
Kontakt: Jonas ( jonas.richhardt@googlemail.com )
Ort: S1|03/10
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Hurra, die Welt geht unter?
Zur Lust an Katastrophen und (Post-)Apokalypse
Ob Film, Literatur oder Computerspiel: Die Apokalyptikerinnen unserer Tage überbieten sich darin, immer neue Katastrophen auf die Menschheit loszulassen. Meteoriten, Krankheiten und Zombies; technisches wie menschliches Versagen drohen, wenn nicht mit der Auslöschung der Gattung, so mit der Zerstörung sozialer Strukturen und zivilisatorischer Errungenschaften. Doch oft genug steht die Zivilisation selbst vor Gericht. Vor dem Hintergrund der Endzeit werden gesellschaftliche Ängste, enttäuschte Hoffnungen oder das "Unbehagen in der Kultur" verhandelt.
Je nachdem, wie der Richtspruch ausfällt, markiert die Apokalypse einen Appell zur Abwehr (z.B. von Klimawandel, Atomkrieg...), ein Gottes- bzw. Natur-Urteil (Jüngstes Gericht, Gaias Rache…) oder eine Zeitenwende (Ende der Geschichte / des Humanismus / des Kapitalismus...). In den Tenor, dass es "so nicht weitergehen kann", mischen sich Elemente von Utopie wie Dystopie; manchmal geht es schlicht um die Fortsetzung des Gleichen mit anderen Mitteln. Das gilt besonders für Visionen der Postapokalypse: Nach dem ersten Independence Day schließt die (Rest-)Menschheit in Emmerichs jüngstem Streich Frieden – um für den intergalaktischen Krieg zu rüsten; die Zombie-Serie The Walking Dead arbeitet sich am Motiv "nackten Überlebens" und der Begeisterung für's second amendment ab...
Gemeinsam möchten wir die Frage nach der (Schau-)Lust am Untergang stellen und uns der Tradition (post-)apokalyptischen Erzählens kritisch nähern. Dabei soll auch auf Strömungen des Millenarismus eingegangen werden, die von der biblischen Offenbarung ausgehen, Endzeitstimmung mit Heilserwartung verbinden, und häufig dem Fanatismus verfallen (die bekannteste, säkularisierte Variante stellt der Nazi-Traum vom "Tausendjährigen Reich"). Im Tutorium wollen wir theoretische Texte zu Katastrophismus und Endzeit-Visionen lesen (z.B.. Eva Horn, Philipp Schönthaler, Nick Bostrom, Slavoj Žižek…); außerdem Mediendiskurse und fiktionale Werke analysieren (möglich ist so ziemlich alles von Karl Kraus über Armageddon bis DayZ). Die nähere Schwerpunktsetzung soll in der Gruppe erfolgen.
Montags 16:15–17:45
Erstes Treffen: 24. Oktober
Kontakt: Jürgen & Viet-Anh ( joey.f@gmx.net )
Ort: S1|13/11a (Fachschaftsraum Pädagogik)
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Subjekt ohne Trieb? Zur Kulturismus-Debatte innerhalb der Psychoanalyse
Freud hat sich zeitlebens als Naturforscher betrachtet; nicht zufällig hält Freud über sein gesamtes Werk – wenn freilich auch mit zahlreichen Modifikationen – an seiner „Trieblehre“ fest. In den 40‘er und 50‘er Jahren entzündet sich am Triebbegriff eine hitzige Kontroverse zwischen Neo-Freudianern (v.a. Erich Fromm und Karen Horney) - oder auch Revisionisten genannt – und den Kritischen Theoretikern (v.a. Marcuse, Adorno und Horkheimer), die innerhalb der psychoanalytischen Rezeption auch als Kulturismus-Debatte bezeichnet wird. Die Revisionisten betonen die soziale bzw. kulturelle Bedingtheit der Triebe und des Unbewussten und bezwecken – gegenwärtigen poststrukturalistischen oder analytischen Ansätzen nicht unähnlich - eine Ersetzung des Begriffes der Libido durch z.B. „emotionelle Antriebe“, „Impulse“, „Bedürfnisse“ oder „Motivationen“ (heute sind es Diskurs, Sprache usf.). Die Kritischen Theoretiker verteidigen hingegen vehement die Trieblehre Freuds. Das mag überraschen: Ist es nicht auch einer der zentralen ideologiekritischen Impulse der Kritischen Theorie, jede noch so scheinbar absolute und ewige Form auf ihren impliziten Inhalt, ihrer Historizität, zu befragen und das "verdinglichte“ (Adorno) bzw. „eindimensionale“ Bewusstsein (Marcuse) zu durchbrechen? Eine biologistische Trieblehre scheint diesem Unterfangen zunächst nicht zuträglich.
Die Anwendung gesellschaftstheoretischer Erwägungen auf die Psychologie wird laut den Kritischen Theoretikern jedoch umso problematischer, „je unbedenklicher die Wechselwirkung von innerer und äußerer Welt auf die Oberfläche verlagert wird“ (Adorno). „Freuds Biologismus ist Gesellschaftstheorie in einer Tiefendimension, die von den neofreudanischen Schulen konsequent verflacht worden ist“ (Marcuse). Wird der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. der Kultur bei Freud explizit innerhalb des Individuums verortet, zwischen Trieb und verinnerlichter Norm, verlagern die Revisionisten den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft außerhalb des (mehr oder weniger intakten) Individuums. Diese „Soziologisierung der Psychoanalyse“ (Adorno) suggeriert ein einheitliches und mit sich selbst identisches Individuum – wenn auch ggf. in Konflikt mit der Gesellschaft - und leistet auf diese Weise einer liberalen Apologetik (‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ usf.) dennoch unfreiwillig Vorschub, die eine freie und autonome Subjektivität als bereits verwirklicht unterstellt.
Das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (Horkheimer und Adorno) ist zugleich eine Reflexion auf die Gesellschaft im Subjekt. Doch wie das komplizierte und vertrackte Verhältnis von innerer Natur (Triebe), kapitalistischer Gesellschaft und verinnerlichter Gesellschaft (Normen, Gewissen) angemessen zu denken ist – vor allem auch in Hinblick auf (autoritäre) Charakterstrukturen und Geschlechterordnungen - bleibt eine offene Frage: Die Kulturismus-Debatte kann eine gute Möglichkeit sein diesen Fragen intensiv nachzugehen und zentrale Gedanken der Psychoanalyse kennenzulernen oder zu vertiefen. Im Tutorium sollen in erster Linie die Beiträge von Fromm,Marcuse, Adorno, Horkheimer, Otto Fenichel und Alfred Schmidt diskutiert werden. Wenn es sich anbietet, sollen zudem Texte von Freud selbst herangezogen werden.
Montags 16:15–17:45
Erstes Treffen: 24. Oktober
Kontakt: Mirko ( mirko.stieber@gmail.com )
Ort: S1|03/025
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Herbert Marcuses ideologiekritische Studie:
Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus
Analysen der Sowjetunion und Kritische Theorie werden in der Regel nur selten miteinander in einen Zusammenhang gebracht; die expliziten Referenzen in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno zum Beispiel verweisen primär auf den Faschismus und der prinzipiellen autoritären Tendenz des Liberalismus und nicht auf spezifische Entwicklungen innerhalb der Sowjetunion. Detaillierte Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion finden sich bei den Kritischen Theoretikern aber durchaus: Vor allem die ökonomischen Analysen von Friedrich Pollock zur Planwirtschaft, sowie Herbert Marcuses ideologiekritisches Werk Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus von 1964 stechen hervor. Letzteres Werk soll Gegenstand des Tutoriums sein.
Die Lehre des sowjetischen Marxismus wird von Marcuse als Ideologe ernst genommen und nicht etwa als ‚reine‘ Propaganda bzw. bloße Rationalisierung einer kleinen verschworenen politischen Clique missverstanden. Vielmehr war die sowjetische Ideologie eine Antwort auf eine spezifisch historische Lage und der Versuch den Marxismus zu aktualisieren bzw. mit dieser Lage zu versöhnen. Die Entwicklung vom Leninismus zum Stalinismus war das Resultat einer – in marxistischer Terminologie - „anomalen“ Konstellation, in der eine sozialistische Gesellschaft in einem Land (Stichwort „Sozialismus in einem Land“) erbaut werden sollte, die mit der kapitalistischen Gesellschaft als Konkurrent eher koexistierte als auf sie immanent folgte, wie es Marx und Engels noch erhofften. Dass die Mehrheit des Proletariats nie revolutionäre Ambitionen hegte, lag nicht allein in der Verkennung der eigenen sozialen Lage bzw. seiner ‚wahren‘ Interessen, sondern spiegelte auch eine faktische ökonomische und politische Tendenz in den westlichen Ländern wider, die durchaus zu einer generellen Besserstellung der Arbeiterschaft führte; der Aufstieg der Sozialdemokratie ist diesbezüglich nur die manifesteste Form für die „Verbürgerlichung des Proletariats“ (Engels) Die „Immunisierung“ (Marcuse) der westlichen Gesellschaften gegenüber kommunistischen Ideen und Praxen führte zur nationalen Spaltung von Kommunismus und Sozialdemokratie und zur bekannten West-Ost-Block-Ordnung der Nachkriegsjahre. Dass es auch historische Alternativen gab, schließt die Analyse der sowjetischen Ideologe nicht aus, sondern - im Gegenteil - für sie soll die Studie von Marcuse sensibilisieren.
Zudem kommt der Studie weiterhin Aktualität zu, weil die gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse nur als Folge des Unterganges der Zwei-Blöcke-Logik verständlich werden: In Verbund mit neuen Elementen bestehen weiterhin Kontinuitäten mit dem alten Block-System (z. B. in der Feindbild-Produktion, ‚Ferner Osten‘ wird zum ‚Nahen Osten‘, Kommunismus zum Islamismus usf.).
Die Beschäftigung mit einer vergangenen Ideologie erweist sich somit unter Umständen ebenso als die Beschäftigung mit unbewältigten Problemen der Gegenwart und das „Ende der Geschichte“ als nicht so endgültig, wie es gerne erscheint. Im Tutorium soll hierzu Marcuses Studie Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus intensiv gelesen und diskutiert werden. Je nach Fragestellung und Vorkenntnisse wird bei Bedarf ergänzende Literatur hingezogen; der Fokus bleibt aber auf der besagten Studie.
Freitags 18:05–19:35
Erstes Treffen: 28. Oktober
Kontakt: Wladimir ( schmuzik@yandex.com )
Ort: S1|03/110
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Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Studierendenbewegung
„Offenes Denken weist über sich hinaus. Seinerseits ein Verhalten, eine Gestalt von Praxis, ist es der verändernden verwandter als eines, das um der Praxis willen pariert.“ (Theodor W. Adorno)
„Doch [Adornos] kritische Option, ein Denken, dem Wahrheit zukommen soll, müsse sich aus sich selbst heraus auf die praktische Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausrichten, verliert an Verbindlichkeit, wenn es sich nicht auch in organisatorischen Kategorien zu bestimmen vermag.“ (Hans-Jürgen Krahl)
Das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Studierendenbewegung der 1960er-Jahre war ein zwiespältiges. Einerseits hatte das nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankfurt zurückgekehrte Institut für Sozialforschung entscheidenden Einfluss auf die Politisierung der westdeutschen Studierenden. Die Theorie und Lehrtätigkeit der Mitarbeiter des Instituts erneuerte nicht nur abgebrochene Theorietraditionen (Marxismus, Psychoanalyse) an den westdeutschen Hochschulen, sie brachte zugleich eine radikale Kritik der postfaschistischen Nachkriegsgesellschaft zur Sprache und wirkte so an der oppositionellen Haltung vieler Studierender mit. Andererseits verhielten sich Adorno und Horkheimer äußerst skeptisch gegenüber der politischen Praxis der Studierendenbewegung. Dies führte zum offenen Konflikt, der sich seitens der Studierenden in einer Enttäuschung äußerte. Adorno und Horkheimer, aus deren Theorie man die praktischen Konsequenzen zu ziehen beanspruchte, wurden des Verrats und der Resignation bezichtigt. Umgekehrt kritisierten sie die Praxis der Studierendenbewegung als „Scheinrevolution“ und „Pseudo-Aktivität“. Die Kontroverse erschöpft sich aber keineswegs in persönlicher Polemik, sondern wurde in einer theoretischen Debatte ausgetragen. Im Zentrum stand dabei die Frage nach dem richtigen Praxis-Verhältnis kritischer Theorie. Eben diese Debatte soll Gegenstand des Tutoriums sein - nicht zuletzt, weil in ihr Motive enthalten sind, die sowohl in der gängigen Historisierung der 68er-Bewegung als auch in der heutigen akademischen Fortsetzung Kritischer Theorie weitgehend vergessen sind.
Dienstags 18:05–19:35
Erstes Treffen: 25. Oktober
Kontakt: Johannes ( johannes.luetkepohl@gmx.de )
Ort: S1|03/104
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Der Kant von Rojava? - Einstieg in das Werk Murray Bookchins
Murray Bookchin (1921-2006) gilt als einer der wichtigsten anarchistischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts. Er entwickelte vor allem eine Kritik an der technischen Naturbeherrschung und gilt als wichtiger Vordenker des Öko-Anarchismus und der ‚grünen Bewegung‘. Daneben entwickelte er auch eine kritische Theorie der Stadt und ein von der Hausbesetzer_innen-Bewegung inspiriertes Konzept direkt-demokratisch organisierter Freiräume als Keimzelle einer neuen Gesellschaft. Neben der anarchistischen bezieht er sich dabei vor allem auf die ‚deutsche‘ Tradition kritischer Theorie von Kant bis Adorno. Über seine Schülerin Janet Biehl beeinflusste er den Öko-Feminismus. Jüngst avancierte er zum wichtigsten Theoretiker der PKK und damit zum Kopf hinter dem Kampf um Rojava. Ist er der Theoretiker der Revolution des 21. Jahrhunderts?
In dem Tutorium wollen wir uns gemeinsam in einem Querschnitt durch einige seiner wichtigsten Publikationen Grundzüge seiner Theorie kritisch erschließen. Der zugängliche Charakter seiner Texte macht sie auch für Einsteiger_innen geeignet. Die genaue Themenwahl erfolgt in Absprache mit den Teilnehmer_innen. Da einige seiner Texte nicht übersetzt wurden, sind solide Englisch-Kenntnisse von Vorteil.
Dienstags 16:15–17:45
Erstes Treffen: 25. Oktober
Kontakt: Paul ( paul_stephan@web.de )
Ort: S1|03/110
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Kritik an der gesellschaftlichen Produktion von „Abfall“:
Auf dem Weg in eine Ära der „intelligenten Verschwendung“?
Die Bezeichnung unserer Gesellschaft als „Wegwerfgesellschaft“ ist Ausgangspunkt dieses Tutoriums, das auf die Kritik der gesellschaftlichen Produktion von Abfall abzielt und Vorschläge einer zukünftigen Kreislaufwirtschaft hinterfragt. Dass in unserer Lebenswelt derzeit eine Kultur des Wegwerfens dominiert, lässt sich vermutlich kaum von der Hand weisen. Unsere Zeit ist geprägt von einer zunehmenden Akkumulation von Abfall, während die Ressourcenvorräte auf der Erde kontinuierlich schwinden. Angesichts dessen fragen gelegentlich Menschen nach dem Sinn von Mülltrennung oder kompostierbaren Plastiktüten, manchmal ist die Rede von „geplanter Obsoleszenz“. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass es der (eigentlich vielfältigen) Diskussion um Abfall oft deutlich an Tiefe mangelt. Die Problematik wird für gewöhnlich verdrängt, wahrscheinlich deshalb, da für den Laien keine Aussicht auf Besserung zu erkennen ist. Vielleicht liegt ein Grund hierfür in den eigentümlichen Eigenschaften des Abfalls selbst, die weitreichendere Auseinandersetzungen als unnütz, ja sogar ekelig erscheinen lassen, denn begriffliche Ausprägungen von Abfall (Ramsch, Kram, Dreck, Mist usw.) sind meist negativ konnotiert. Das zentrale Anliegen dieses Tutoriums liegt darin, diesen ausgegrenzten Bereich in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, ihn auf vielschichtige Weise zu reflektieren und zu kritisieren.
Hierzu beschäftigen wir uns mit vielerlei Begriffen und Konzepten rund um das Thema Abfall, mitunter dem Verhältnis zwischen Abfallgenerierung und Kapitalismus (Mode, Kitsch, Reparatur, Innovation). Wir untersuchen, inwiefern unbewusste Einflussgrößen (Ekel, Geruch, Reinheit) in diesem Kontext eine entscheidende Rolle spielen. Neben einer Vielzahl an weiteren Facetten liegt das Augenmerk darauf, sich kritisch mit alternativen (zum Teil bereits gelebten) Visionen, Konzepten und Ansätzen für einen zukünftigen Umgang mit Abfall zu befassen, insbesondere mit dem Konzept der „intelligenten Verschwendung“.
Das Seminar folgt keinem linearen Seminarverlauf, die Festlegung von inhaltlichen Schwerpunkten erfolgt im Einvernehmen mit den Teilnehmenden. Auf eine angenehme Atmosphäre wird besonders Wert gelegt. Für weitere Informationen, Fragen und Anregungen, freue ich mich über eine Nachricht in meinem E-Mail-Postfach.
Weiteres, bspw. eine Übersicht potentieller Tutoriumsliteratur, findet sich unter: http://abfallgespraech.tumblr.com
Dienstags 18:05–19:35
Erstes Treffen: 25. Oktober
Kontakt: Tobias ( bergertobias@posteo.de )
Ort: S1|03/312
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